Vor drei Jahren schloss Annemarie Roszko ihr kleines Lebensmittelgeschäft. Damit haben vor allem die älteren Einwohner von Freienfels etwas verloren, denn es war bestimmt praktisch nicht erst mit dem Bus nach Weilburg oder Weinbach fahren zu müssen, nur um ein paar Kleinigkeiten einzukaufen. Außerdem war meine Großmutter immer zu einem kleinen Gespräch bereit. 38 Jahre lang führte sie das Geschäft, das seit 1925 bestand, nachdem sie es 1958 nach dem Tod ihrer Mutter Anna Schneider übernommen hatte.
Zunächst war der Lebensmittelladen in der ehemaligen Gärtnerei (Weinbacher Straße 4) untergebracht. 1966 zog meine Großmutter mit meinem Großvater und den drei Kindern und damit auch der Laden in das Haus Weinbacher Straße 6, wo er sich bis zuletzt befand.
Wenn wir heute Hülsenfrüchte, Nudeln, Mehl, Salz und Zucker kaufen, ist alles schon fertig abgepackt. Früher jedoch musste alles abgewogen werden. So zum Beispiel auch Sirup, der vielen vielleicht eher als Leiermann ein Begriff ist. Hierzu erzählte mir meine Großmutter eine kleine Geschichte. Als sich der Laden noch in der Weinbacher Straße 4 und im Besitz von Anna Schneider befand, kam ein Kind, das Sirup kaufen wollte. Meine Urgroßmutter wog das Glas und füllte den Sirup ab. Als das Kind, dessen Name mir leider nicht bekannt ist, bezahlen wollte, konnte es seinen Geldbeutel nicht finden. Wie sich nach einigem Suchen herausstellte, befand sich der Geldbeutel unten im Glas.
Da es ziemlich mühsam war, die Produkte, die kühl gelagert werden mussten, immer in den Keller und bei Bedarf wieder nach oben zu tragen, kaufte sich meine Großmutter 1959 den ersten Kühlschrank. Dies erleichterte ihr vieles und die Ware blieb noch länger frisch.
Ich möchte hier nun einige Preise aus den Jahren 1950/1951 anführen, die ich einem Buch entnommen habe, in dem die Kunden anschreiben lassen konnten. Vielleicht erinnern sich einige dieser Kunden ja daran. So kosteten zum Beispiel
7 Heringe aus dem Fass 0,70 DM
500 g Butter 1,36 DM
1 Pck. Tabak (50 g) 1,00 DM
5 Zigaretten 0,50 DM
Öl (0,75 l) 1,45 DM
500 g Zucker 0,66 DM
Wie man sieht, sind die Preise zum Teil sehr gering, wenn man sie mit den heutigen vergleicht. Doch auch wenn sich das alles sehr schön anhört, so war es das nicht immer. Wie zum Beispiel am 17. Dezember 1974: Gegen fünf Uhr nachmittags, also kurz vor Ladenschluss, betrat ein junger Mann das Geschäft. Scheinbar harmlos begutachtete er die Süßwaren. Plötzlich tauchte ein Zweiter auf und zielte mit einer Pistole auf meine Großmutter während der andere hinter die Theke kam. Er verlangte das Geld aus der Kasse. Als er es erhalten hatte flüchteten beide mit einem Auto, das sie vor dem Laden geparkt hatten. Trotz Phantombildern, die im Weilburger Tageblatt veröffentlicht wurden, konnten die Täter nie gefasst werden. Doch die Hauptsache ist das nichts Schlimmeres passiert ist.
Wenn man auf die letzten drei Jahre zurückblickt, kann man doch sagen, dass das Leben ohne den Laden für meine Großmutter wesentlich ruhiger geworden ist, auch wenn wir Enkelkinder manchmal etwas traurig darüber sind, dass wir uns im Sommer nicht mehr einfach mal schnell ein Eis holen können. Doch muss man auch sagen, dass es auf die Dauer nicht mehr rentabel gewesen wäre, den Laden weiter zu führen, denn dafür war die Kundschaft zu gering.
Ich denke jedoch, viele Freienfelser werden mit mir übereinstimmen, wenn ich sage: Der kleine Tante Emma Laden ist ein Stück Dorfgeschichte.
Beate Hardt, Jahresrückblick Freienfels 1998